
Das abenteuerliche Leben des Sohnes der Sargfabrikantin Frau Eschenzweig
#MINIROMAN_1 in 13 Kapiteln
„Karl-Eugen Junior! Warum sind die Särge schon wieder bunt?“
Die schrille Stimme seiner Mutter schmerzte ihm heute noch im Ohr.
Er war es inzwischen leid, ihr wieder zu entgegnen: „Weil ich Särge aus Eiche Natur
langweilig finde! Jeder Mensch ist einzigartig. Deshalb hat jeder Mensch seinen
einzigartigen Sarg verdient!“
Schon als Kind hatte er sich oft in den Ausstellungsraum von „Ruhe sanft im Eichenzweig“,
der Sargfabrik seiner Eltern geschlichen. Den Farbkasten unter dem Arm verschönerte er
die Särge auf seine Weise. Malen war sein Lebenselixier. Den Sarg, der für den
verstorbenen Gärtner bestellt war, verzierte er mit Blumen. Der Maurer, dessen Hobby die
Imkerei war, sollte seinen Sarg mit unzähligen Bienen bemalt bekommen. Und immer wieder
schimpfte seine Mutter und wischte seine Gemälde mit tiefster Inbrunst wieder weg.
Schon vor dem Tod seines Vaters stand für die Familie fest, dass er das elterliche Geschäft
übernehmen sollte. Nur er strebte ein anderes Leben an. Er wollte ein berühmter Maler
werden.
Bei seinen Großeltern und seiner Mutter hatte er immer nur Kopfschütteln ob seiner
Berufswahl Maler bekommen. Kunst sei ein brotloses Geschäft vernahm er immer wieder.
Nur sein Vater konnte seinem Gedanken, die Särge einzigartig zu gestalten, etwas
abgewinnen.
So lange er sich zurück erinnern konnte hatte er mit Farbe bekleckste Finger. Man musste
ihm nur ein Stück Papier, und sei es ein Tapetenfetzen, dazu Blei- oder Buntstifte in die
Hand geben und er war der glücklichste Junge der Welt.
Doch dann kam der Tag, der sein Leben total ändern sollte. Als Karl-Eugen wieder einmal damit beschäftigt war, Särge prächtig zu dekorieren, kam ein auffällig gekleideter Mann in die Werkstatt. Seine Haut war dunkel und er fiel durch farbenfrohe exotische Kleidung auf. Er sprach gebrochen deutsch. Anerkennend musterte er den bunten Sarg. Karl-Eugen erzählte ihm, dass das der Sarg des Blumenmädchens ist, das verstorben war.
Von nun an traf er sich öfters mit dem Fremden. Er sprach mit ihm über seinen Traum Maler zu werden. Der Mann hieß Atsu und kam aus Ghana. Er lud den Jungen ein ihn zu besuchen. Er erzählte von seinem Land und dass es da eine ganz andere Form der Bestattungskultur gibt. Dort sind der Form der Särge, den Themen und der Verzierung keine Grenzen gesetzt. Geheimnisvoll und mit einem Augenzwinkern übergab er dem Jungen seine Visitenkarte. Plötzlich war er verschwunden. Er wollte ihn doch noch so viel fragen. In dieser Nacht schlief er nur wenig. Bunte Einwohner Ghanas tanzten mit farbenfrohen Särgen in seinen Träumen herum. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Unbedingt musste er dorthin. Nur da konnte er seine Träume verwirklichen. Oder doch nicht? Und seine Mutter. Mit ihr darüber zu sprechen schien ihm unmöglich.
Kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag nahm er den Rucksack mit seinen Malsachen und seine wenigen Ersparnisse, die er in der Werkstatt der Mutter verdient hatte. Er schlich sich zum Hafen. Schon oft hatte er hier gestanden. Er wusste genau, wo die Schiffe vor Anker lagen, die Richtung Afrika fuhren. Es war dunkel. Die Männer saßen an Bord. Sie tranken sangen und lachten. Der Moment war günstig. Schnell rannte er über den Steg auf das Schiff und versteckte sich in einer Ecke unter Planen. „Hier wird mich nicht so schnell niemand finden“, dachte er. Am frühen Morgen legte das Schiff ab. „Endlich“, flüsterte er. Aber er dachte auch voller Wehmut an seine Mutter, für die er einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte.
Am nächsten Morgen kitzelte ein Duft von leckerem Essen seine Nase. Seine Vorräte waren nicht groß. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck. „Hoho!“, rief eine tiefe Stimme und zwei Hände packten ihn. Er zuckte zusammen. Ein Kerl, stark wie ein Bär, hatte ihn aufgespürt. Ängstlich erzählte er dem Seemann seine Geschichte. Dieser hörte aufmerksam zu und versprach dem Jungen, dass er auf dem Schiff bleiben könne. Zum Umkehren war es ohnehin schon zu spät. Tag für Tag schälte er nun Gemüse für die Mannschaft oder nahm Fische aus. Es war ein fröhliches Leben an Bord. Alle hatten ihn ins Herz geschlossen. Er war ein Teil der Schiffsmannschaft geworden. Doch er verlor dabei auch nicht das Ziel seiner Reise aus den Augen. Manchmal saß er am Abend da und malte. Der Steuermann hatte ihn beobachtet und sagte: „Was machst du denn da? Hast du Geheimnisse?“ “Nein“, erwiderte Karl Eugen. „Nur große Lust etwas Besonderes zu malen. “Er erzählte ihm von seinen Plänen und dass er beabsichtige in Ghana selbst ein Teil der dortigen Kultur zu werden.
„Aha“, meinte der bärtige Mann. „Kein Problem, da kannst du dich doch bei uns mal richtig austoben. Bemale doch unseren heruntergekommenen, langweiligen Kahn. Es sind noch Farben von der letzten Ladung da“, fügte er hinzu. Karl Eugen sprang vor Freude auf und klatschte in die Hände: „Ich fange sofort an“, rief er. Er bemalte die Wände, die Flure, die Reling des Schiffes mit Fischen, Wasser, Palmen, Blumen und sonstigem Getier. Die Seeleute freuten sich über die Abwechslung. An einem Abend begutachtete der Schiffskoch alles und rief: “Aber wo sind die Frauen und die schönen Mädchen. Da hast du aber etwas sehr Wichtiges vergessen!“ Als der Junge das dann auch noch vollendete, war das Schiff ein wahres Kunstwerk geworden. Dabei hatte er gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen 4 war.
„Land in Sicht!“, tönte es an Bord. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihn. Aber ihm war auch etwas bange vor der Ungewissheit. Er schaute auf den Hafen hinab. Braungebrannte Menschen arbeiteten emsig wie Ameisen. Von seinen Freunden an Bord erhielt er Abschiedsgeschenke und eine Tüte voller Ratschläge. Hoffnungsvoll ging er auf die Menschen zu und zeigte ihnen die Visitenkarte seines Freundes Atsu. Doch niemand schien ihn zu kennen. Er zweifelte kurz, aber er wusste es doch: „Ich bin in Tema, der Heimatstadt von Atsu“. Ein hagerer Mann mit vorstehenden Zähnen wurde auf ihn aufmerksam. Auch er kannte seinen Freund nicht, aber er hatte Arbeit für ihn. Der Mann war Fischhändler im Hafen und konnte ein paar tüchtige Hände gebrauchen. Eine Matte hinter der Fischbude war sein Bett. So hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt. Die Menschen schauten ihn verwundert an, wegen seiner weißen Hautfarbe. Aber sie waren freundlich und von einer unbändigen Lebenslust geprägt.
Manchmal wenn am Abend die Gesänge der Fischer vom Meer zu ihm herüberdrangen, seufzte er und malte Bilder, die er dann im Hafen verkaufte. Es war wieder so ein Abend. Er setzte sich hin, um zu malen. Doch was war das? Wo waren die Malsachen mit Rucksack und seine Habseligkeiten, das Bild seiner Mutter, das Geld? Alles weg? Gestohlen? Eine Welt brach für ihn zusammen. Plötzlich fühlte er sich einsam und ohne Perspektive für seine Zukunft. Am Morgen weckte ihn der Fischhändler. Er hatte einen Auftrag für ihn. Er sollte eine Riesenkarre mit Fisch ans andere Ende der Stadt bringen. Sein Weg führte ihn an den bunten Ständen am Hafen vorbei. Es folgten die Hütten der Ärmsten. „Soll das auch meine Zukunft sein?“, dachte er. Bald kam ein Viertel mit prächtigen Häusern und Palästen und Palmen. Sattes Grün säumte die Parks. Doch plötzlich: “Halt!“ Ein Wächter stoppte ihn. Karl-Eugen zeigte den Lieferschein. Anerkennend nickte der Mann und zeigte auf den Weg rechts. Prächtig gekleidete Menschen kamen ihm entgegen. Ein stattlicher Mann in seidenen Gewändern stieg die Treppe herab. Er grüßte und ging an dem Mann vorbei.
Plötzlich riss ihn eine Stimme aus dem Alltagstrott: “Karl-Eugen?“ Er drehte sich um. Da war sein Freund Atsu Amissah. Lange lagen sie sich in den Armen. Karl-Eugen erzählte von seiner abenteuerlichen Überfahrt nach Ghana und seiner Hoffnungslosigkeit danach. Es stellte sich heraus, dass Atsu ein angesehener Geschäftsmann ist und eine Sargmanufaktur besitzt. „Sei erst einmal mein Gast. Später kannst du bei mir wohnen und arbeiten“, sagte er freundlich zu dem Jungen.
Nachdem er nun frisch gebadet und eingekleidet war, sah er aus wie ein kleiner Fürst. Müde sank er in die Kissen seines weichen Bettes. Alles kam ihm wie ein Traum vor.
In den nächsten Tagen hieß ihn sein afrikanischer Freund Atsu Amissah nicht nur in seinem
gastlichen Haus mit dem wunderschönen Anwesen willkommen, sondern zeigte ihm auch
seine Sargmanufaktur und Karl-Eugen nahm mit Freuden den Vorschlag an, bei Atsu zu
arbeiten.
Er lernte in den folgenden Monaten viel über den Sargbau hier in Ghana. Neue Holzarten,
mit denen er zu Hause noch nie gearbeitet hatte, erregten ebenso sein Interesse, wie ihre
speziellen Bedeutungen in der weitreichenden Bestattungskultur Ghanas.
Die Leute in Tema bemerkten bald seine außergewöhnliche malerische Begabung und nach
und nach gab es immer mehr Aufträge für ihn zum bildhaften Gestalten der Särge. Er stellte
die spirituellen Wurzeln und sagenhaften Geschichten der verschiedenen Familien und
Stämme mit beachtlichem Einfühlungsvermögen und großer Fingerfertigkeit dar und machte
sich damit mehr und mehr einen Namen. Damit vermehrte er nicht nur den Reichtum seines
Freundes Atsu, sondern auch seinen eigenen.
Auch die weiblichen Herzen flogen ihm nur so zu, weil sein europäisches Aussehen und
seine zurückhaltende Art exotisch auf die jungen, lebenshungrigen Frauen wirkten. So
brachte ihm sein Anderssein viele Verehrerinnen und auch mehrere heiße Nächte ein. Die
künstlerische Seite seines Wesens und der Abenteurer in ihm entfachten das Interesse und
die Fantasien der einheimischen Mädchen, und so hatte er mit seinen inzwischen gerade
mal 17 Jahren reichlich Gelegenheit, nicht nur seine ersten Erfahrungen in der Liebe zu
sammeln, sondern auch mit den heißblütigen jungen Afrikanerinnen sein Liebesspiel zu
erweitern und zu vervollkommnen. Sein neues Leben ließ also kaum Wünsche offen.
Währenddessen fuhr das von ihm bemalte Schiff weiter über die Meere und erregte in vielen
Häfen beachtliches Aufsehen. Man fragte überall nach dem Namen des offensichtlich
überdurchschnittlich begabten Malers. Dieser war seiner ehemaligen Schiffsmannschaft
zwar bekannt, aber nicht sein genauer Aufenthaltsort in der afrikanischen Provinz. Der
geheimnisvolle Maler des wundervoll gestalteten Schiffes, nach dem der halbe Erdball
zunehmend suchte, beherrschte monatelang die Weltpresse. Wer ist der mysteriöse
Unbekannte? Die Großen und Reichen vieler Länder gierten danach, von ihm
Auftragsarbeiten anfertigen zu lassen. Man bot ihm hohe Gagen. Wenn er denn nur endlich
gefunden werden könnte!
Karl-Eugen erreichte das weltweite Aufsehen um seine Person lange nicht, aber seine
Mutter, Frau Eschenzweig im industriell gut entwickelten Deutschland, hörte natürlich eines
Tages davon. Seit seinem heimlichen Weggang, bei dem er ihr damals nur seinen
Abschiedsbrief hinterließ, führte sie ihr Sargunternehmen alleine und hatte inzwischen ihren
Frieden mit dieser Schicksalswendung gemacht, wollte sie doch seinem Glück nicht im
Wege stehen. In den letzten Monaten, seit er bei Atsu lebte und arbeitete, erhielt sie wieder
regelmäßig Briefe von ihrem Sohn, in denen er ihr sehr ausführlich sein neues Leben
beschrieb. Diese exotischen Schilderungen entfachten ihre Abenteuerlust, erweiterten ihren
Horizont und sie blühte regelrecht auf. Karl-Eugen schickte ihr auch gelegentlich Bilder
seiner Arbeiten in der afrikanischen Sargmanufaktur, die seine Mutter inspirierten, so dass
sie auch selbst frische Ideen entwickelte und ihrem Unternehmen damit einen beachtlichen
Aufschwung bescherte. Ihre neue Lebensfreude und ihr erwecktes Selbstbewusstsein
gaben ihr ein auffallendes Strahlen, das natürlich auch den Männern ihrer Umgebung nicht
verborgen blieb. Sie nannte es „ihren zweiten Frühling“, den sie nun in vollen Zügen zu 6
genießen lernte.
Seine Mutter war es, die ihm davon schrieb, dass sein Name inzwischen in der
internationalen Malerszene in aller Munde war und dass überall auf der Welt fieberhaft nach
dem neuen, unbekannten Genie gesucht wurde.
Bei all der Euphorie hatte niemand damit rechnen können, dass es Menschen gab, denen
der erfreuliche Ruhm des jungen Karl-Eugen nicht behagen würde. Darum war es zwar von
Vorteil, dass keiner wusste, wo genau sich der Künstler aufhielt, auch wenn seine Motive
für einen westafrikanischen Einfluss sprachen. Doch für die Presse spielte das eine
geringere Rolle, solange es nur genug über ihn zu berichten gab.
Genau dafür sorgte nun leider der Umstand, dass eine verborgene Seite des Eschenzweig-Familienstammes just zu dem Zeitpunkt bekannt zu werden drohte, als Junior Karl-Eugen
und Mutter Eschenzweig endlich auf der Sonnenseite des Lebens standen.
Denn Folgendes trug sich in der Vergangenheit zu:
Die Vorfahren der Eschenzweigs waren nicht immer ausschließlich fleißige Schreiner. Das
heißt, sie waren es schon. Bis zu einer großen Hungersnot, in der einige der Sippe ihren
Verdienst nicht mehr in den üblichen Schreinerarbeiten fanden, sondern sich auf die
Sargschreinerei verlegten. Ein anderer ihrer Sprösslinge aber nahm ein Amt an, das zwar
sehr gut entlohnt, aber außerordentlich gefürchtet war: die Aufgabe des Scharfrichters.
Zweifelsohne genoss der ein Ansehen, denn man konnte ihn schwerlich nicht respektieren.
Aber ohne Zweifel war es kein rühmliches, denn jedermann mied tunlichst seine
Gesellschaft. Bezahlt wurde er jedoch pünktlich und die Anzahl jener, derentwegen es
dieses Amt gab, nahm nicht ab. Und so verschaffte der Scharfrichter dem Rest seiner
Verwandtschaft, die das ehrbare Schreinerhandwerk ausübte, gleich noch die nötige
Kundschaft für die Sargschreinerei.
Allerdings änderten sich die Zeiten und auch die Gesetze, weshalb man zu Lebzeiten von
Karl-Eugen und dessen Mutter nicht mehr allzu viel davon hielt, jeden verurteilten
Kriminellen zugleich zu Tode zu befördern. Mit dem Scharfrichteramt hatte es aus diesem
Grund ein Ende. Mit der Sargschreinerei aber nicht – zum Glück der einen (wegen des
Verdienstes) und zum Leid der anderen (wegen des zugrunde liegenden Anlasses).
Die Eschenzweigs lebten einmal weniger und einmal mehr gut davon. Und der nicht
ruhmreiche Vorfahre wäre nie wieder in Verbindung mit Karl-Eugen gebracht worden, hätte
nicht ein emsiger Laiengeschichtsforscher seine Freude daran gefunden, das Schicksal des
Scharfrichters seines Heimatortes ans Tageslicht zu zerren. Der Zufall wollte es, dass dies
auch der Heimatort Karl-Eugens war.
All das wäre nicht schlimm gewesen, wenn der Forscher es bei den Informationen über den
Scharfrichter hätte bewenden lassen. Aber nein, seiner Emsigkeit waren keine Grenzen
gesetzt und es zu danken, dass er die Generationen der Nachgeborenen unbedingt
ermitteln wollte. Das schien kein leichtes Unterfangen zu werden, denn in vergangen
Jahrhunderten kam es häufig zu Stadtbränden. Weil man sich die Helligkeit im Haus in
früheren Zeiten mit Petroleum oder Kerzen verschaffte, es keine Feuerwehr, aber
Strohmatratzen und Holzbalken gab, war es nicht allzu wahrscheinlich, den Stammbaum
lückenlos bis zur Gegenwart zu erschließen. Jedoch in diesem Fall lag vom
Einwohnerverzeichnis bis zum Taufregister alles säuberlich in städtischen und kirchlichen
Archiven verwahrt. Deshalb konnte der Laienhistoriker tatsächlich eine Verbindung vom
Scharfrichter – die braven Eschenzweig-Schreiner ließ er außen vor – bis zu Mutter
Eschenzweig (eigentlich bis zu ihrem Gatten, was aber derzeit niemanden interessierte) und
Sohn Karl-Eugen herstellen. Doch wer kann so etwas gerade zu einem Zeitpunkt brauchen,
wo ihm weltweit Ruhm angedeiht und er der Weltpresse liebstes Kind ist?
Der Historiker hingegen freute sich über die Maßen, dass er durch die zufällige Entdeckung
der Verbindung zu einem Scharfrichter eine Gelegenheit fand, seinem lange gehegten Groll
auf eine Familie Luft zu verschaffen, mit der er eine Rechnung offen hatte.
Genau diese Familie waren die Eschenzweigs.
Allerdings vergaß der gute Hobbyhistoriker, dass Rache am besten kalt serviert wird.
Kaum hatte er die verwandtschaftlichen Bande zwischen dem lang verblichenen
Scharfrichter Eschenzweig und dem aufstrebenden Künstler Karl-Eugen ausgegraben,
verfiel er in kopflosen Aktionismus.
Keine 48 Stunden vergingen bis er die Redaktionen des Landes mit seinem Machwerk
beglückt hatte. Und weil der Sommer seit jeher Saure-Gurken-Zeit ist und Klatsch über die
aufsteigenden Sterne am Himmel der dekadenten Hauptstadtkunst bei manchen
Redakteuren nicht unbeliebt ist, fand der Scharfrichter im Stammbaum des halbseidenen
Sargfabrikantinnensöhnchens mühelos den Weg in die Schlagzeilen.
Und ebenso selbstverständlich war, dass sich keiner der Redakteure die Mühe machte, die
Recherche zu lesen. Der eine oder andere reißerisch umformulierte Satz aus dem
Anschreiben wurde unter bunte Bilder layoutiert und fertig war der Zauber – ganz im Sinne
von: "Karl-Eugen – Nachfahre des blutrünstigen Scharfrichters", "Kunststernchen mit
makaberem Stammbaum" und ähnliche Stumpfsinnigkeiten aus der Vorhölle der
Schlagzeilen.
Dass eine solche Enthüllung heutzutage keine Katze hinter dem Ofen hervorlockt, kann sich
jeder lebhaft vorstellen.
Und da sich niemand die Mühe gemacht hatte die Recherche des verkrachten
Hobbyhistorikers zu lesen, wurde der eigentliche Skandal gar nicht publik.
Karl-Eugen nutzte die saftlosen Schlagzeilen und erfand aus dem Stehgreif eine Serie "in
Arbeit befindlicher Installationen", die sich dem Thema "Scharfrichter – Mörder im Auftrag
der Justiz" widmen würde und kümmerte sich sonst nicht weiter darum und die ehrenwerte
Frau Eschenzweig lächelte auf Nachfrage freundlich und hielt sich aufrecht und bedeckt.
Und so kam es, dass, bis auf Weiteres, niemand erfuhr welcher eigenwilligen und perfiden
Familienzusammenarbeit zwischen den Scharfrichter-Eschenbaums und ihren Nachfahren
sowie dem Sargtischlerzweig der Familie, das Vermögen der liebenswerten Patriarchin
Eschenbaum entsprang.
Der eifrige Hobbyhistoriker war am Boden zerstört! In welch bunten Farben hatte er sich
seine Rache ausgemalt? Und nun profitierte dieser Künstler-Schnösel Karl-Eugen, dessen
Kunst kein Mensch braucht, auch noch von seiner Recherche. Das stieß ihm gallebitter auf!
Tagelang zog er sich in sein einsames Zimmer zurück, verdunkelte die Fenster und grollte
vor sich hin. Er aß kaum etwas, aber trank in großen Mengen Wein, um seinen Kummer zu
vergessen. „Wie ungerecht die Welt ist“ murmelte, stöhnte, fluchte und jammerte er in seinen
wachen Momenten.
Aber irgendwann war auch diese Zeit des Selbstmitleids vorbei und er ging hart mit sich
selbst ins Gericht. Warum hatte er so vorschnell reagiert, ohne seine Geschichte zu
untermauern?
Er hatte doch gründlich und akribisch recherchiert. Was hätte er anders machen können,
machen sollen? Warum war seine sensationelle Enthüllung im Sand verlaufen?
Er nahm sich einen Bogen Papier und begann – ebenso akribisch – einen Plan zu
formulieren:
Er kam zu der Einsicht, dass er das falsche Medium für seine Veröffentlichung gewählt hatte.
Diese Boulevardblätter verbreiteten Pseudonachrichten und waren nicht im Geringsten an
echten Wahrheiten interessiert. Aufstrebende Künstler, egal wie nutzlos, Publicity, Klatsch
und Tratsch war es, was die Auflagen in die Höhe trieb. Vielleicht waren sie ja auch nur zu
feige, sich mit der einflussreichen Patriarchin Frau Eschenzweig und deren Familie
anzulegen.
Außerdem brauchte er unbedingt einen Partner! Am besten jemanden, dem die gleiche
Achtung entgegengebracht wurde wie der Sargfabrikantin. Jemanden, der einen ähnlich
starken Einfluss auf die Meinung der Bürger der Stadt ausüben kann. Er beschloss den
Getränkemagnat der Region in sein Boot zu holen. Wenn er ihn in den Skandal der Familie
Eschenzweig einweihen würde, ihn überzeugen könnte und er mit ihm gegen diese
Ungeheuerlichkeit vorginge, würde das dessen Stellung im Stadtrat deutlich festigen. Und
unter seinem Artikel stände dann ein bedeutender Name und nicht nur der eines verkrachten
Hobbyhistorikers.
Macht und Einfluss der Familientradition der Eschenzweigs, Geld, Pseudonachrichten –
nichts wird ihn davon abhalten aller Welt zu zeigen, dass deren Vermögen nicht auf ehrliche
Weise erworben wurde.
Dann endlich konnte er seine Rache genießen!
Zufrieden überflog der Hobbyhistoriker noch ein letztes Mal seine Notizen, schlug im
Telefonbuch die Nummer des Getränkemagnaten nach und knipste die Schreibtischlampe
aus. Knurrend meldete sich sein vernachlässigter Magen zu Wort. „Jetzt erst einmal was
Vernünftiges essen. Mmh, ob noch was im Kühlschrank zu finden ist?“ Schlurfend betrat er
die Küche und schaute in den Kühlschrank. Triumphierend griff er nach einer Tupperdose
und öffnete sie. Süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase und er verzog angewidert das
Gesicht, als er die Lasagne mit grünem Pelz sah.
„Memo an mich selbst: Nur weil die Lasagne in der Tupperdose ist, hält sie noch lange nicht
für immer frisch“, murmelte er.
Zu seinem Glück fand sich noch eine Thunfischkonserve hinten im Kühlschrank, die er
eigentlich der Nachbarskatze hatte geben wollen. Seufzend öffnete er sie und löffelte den
Inhalt. Morgen musste er unbedingt wieder einkaufen gehen und sein Leben auf die Reihe
bekommen. Nach dem kargen Mahl ging er ins Bett und konnte seit langem endlich wieder
entspannt schlafen.
Die erste Phase seines Racheplans würde beginnen.
Am nächsten Morgen erledigte er zuerst seinen längst überfälligen Einkauf und rief dann
den Getränkemagnaten an. Fünfmal klingelte es, bis sich schließlich eine angenehme
Bassstimme am anderen Ende der Leitung meldete: „Getränkefachhandel Martens. Was
kann ich für Sie tun?“
„Guten Morgen, Herr Martens! Ich hätte da ein Angebot für Sie, das Sie sicher nicht
ausschlagen wollen. Es hängt mit Frau Eschenzweigs unehrlich erworbenem Vermögen
zusammen.“
Eine lange Pause folgte, in der niemand etwas sagte. Dann fragte Herr Martens aufgeregt:
„Unehrlich erworbenes Vermögen?“
Der Hobbyhistoriker lächelte. Der große Fisch hatte angebissen.
„Ganz recht! Ich habe Beweise dafür gesammelt und würde sie Ihnen gerne präsentieren.
Heute Abend in der Bar in der Lessingstraße. Ihr Schaden wird es sicher nicht sein und Ihre
einflussreiche Position im Stadtrat sollte damit endgültig gefestigt werden.“
Nach einer Weile des Überlegens antwortete der Getränkemagnat: „Gut, ich erwarte Sie
dann dort.“ Dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Der Hobbyhistoriker lachte laut auf und reckte seine Faust nach oben. Der erste Schritt war
geschafft. Jetzt würde er es der alten Schnepfe endlich zeigen können.
Um Punkt acht betrat er die kleine, dunkle Bar in der Lessingstraße und schaute sich um.
‚War er wirklich gekommen?‘ Tatsächlich ganz hinten in der dunkelsten Ecke saß Herr
Martens auf einer dunkelbraunen Ledercouch und neben ihm…
Abrupt blieb der Hobbyhistoriker stehen. ‚Nein, das kann nicht wahr sein. Warum ist ER
hier?‘
Neben Herr Martens saß der Sohn von Frau Eschenzweig...
Schon eine Ewigkeit lang hatte er ihn nicht gesehen, doch das kantige Gesicht mit der
charakteristischen Hakennase ließ keinen Zweifel. Selbst die widerspenstigen roten Haare
verrieten ihn als Eschenzweig-Sprössling. Da konnte auch sein vom Leben gezeichnetes
Erscheinungsbild keine Zweifel aufkommen lassen. Wie hieß er doch gleich… Alfred, ja,
Alfred Eschenzeig. Sicher lebte er bereits in Erwartung des umfangreichen Erbes der
Eschenzweig-Linie. Wenn er, der Hobbyhistoriker, da nicht noch einen Strich durch die
Rechnung machen würde... Was hatte sich dieser Martens dabei gedacht, ihn hierher zu
bestellen? Aus dem geplanten vertraulichen Gespräch würde nun wohl heute nichts
werden...
Nach blitzschnellem Durchspielen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten
beschloss er, sich nichts anmerken zu lassen und ging forschen Schrittes geradewegs auf
die beiden zu, begrüßte den Getränkemagnaten und stellte sich dem Mann mit dem braunen
wettergegerbten Gesicht kurz mit seinem Namen vor. Offensichtlich war dieser bereits im
Bilde über den Zweck des heutigen Treffens, denn er ergriff sogleich das Wort:
„Ich bin nicht der, für den Sie mich wahrscheinlich halten, mein Herr. Ich bin Edmund
Eschenzweig, der erstgeborene Sohn und damit rechtmäßiger Erbe des Vermögens der
Eschenzweigs. Unehelich geboren wäre ich eine Schmach für die Linie der Eschenzweigs
gewesen und so musste ich verschwinden. Das Glück war mir dennoch hold. Über Umwege
kam ich zu einem entfernten Oheim, in dessen Familie ich unter falschem Namen überleben
konnte. An meinem achtzehnten Geburtstag erfuhr ich, wer ich in Wahrheit bin. Mir war klar,
dass ich keine Chance haben würde, mein Recht zu erhalten. Kopflos verließ ich die Stadt.
Lange Jahre fuhr ich zur See. Ich habe die Welt gesehen und bin zweimal knapp dem Tode
entkommen. Bei allem, was ich tat, war ich getrieben von dem Gedanken, eines Tages mein
Recht einzufordern. Dieser Tag scheint nun in absehbare Nähe gerückt zu sein.“
Während der Worte des nicht mehr ganz jungen Mannes hatte Herr Martens kein Auge von
dem Hobbyhistoriker gelassen. Er wollte jede Regung seines Gesichtes erfassen, um
einschätzen zu können, inwieweit Edmund Eschenzweig mit der Unterstützung dieses
überaus scharfsinnigen Mannes rechnen konnte. War er, Martens, doch auch persönlich an
der Aufdeckung dieser Geschichte interessiert, denn er war der leibliche Sohn dieses
entfernten Oheims, welcher dem kleinen Jungen damals das Leben rettete, indem er ihn bei
sich aufnahm. Sie waren zusammen aufgewachsen und hatten sich all die Jahre aus den
Augen verloren, bis zu dem Tag vor wenigen Wochen, an dem Edmund plötzlich vor seiner
Tür stand...
Der Hobbyhistoriker seinerseits hatte den überzeugend vorgetragenen Worten des Mannes
im abgewetzten grauen Leinenjacket mit wachsender Spannung gelauscht und versuchte
diese Informationen mit seinen Recherchen der letzten Monate abzugleichen, als er durch
die Bestellabfrage des Barkeepers abrupt in die Realität zurück geholt wurde…
„… nu kumm schoo, i habsch ne ewisch Zeit, wasch dafs sei?!“, nervte ihn der speckige
Dickwanst forsch. Seine fettigen Finger trommelten gereizt gegen die Tischkante. Der
Hobbyhistoriker war noch benommen von Edmunds Erklärung, er wusste nicht was er
bestellen sollte. Schließlich bat er um ein kleines stilles Wasser. „Wasch kee Biir? Son
Spachltazaan wie schie brocht wat ornnlisch Kräftsches!“, schnalzte der beschwipste Wirt.
Im Mundwinkel hing schief sein Zigarrenstümmelchen. „Äh nun ja, was Stärkeres wäre jetzt
sogar angebrachter, ein Schlückchen Whiskey wäre mir angenehm.“ „Old Stämpfi, Räd
Börtn oder 18ner Tänäsi?“, fauchte der Schanker zurück. „Äh, bringen sie mir irgendein,
ganz egal was.“ Gedankenverloren stierte der Kneipier noch eine Weile in die Runde,
grummelte irgendwas und stampfte davon. Gedankenverloren starrte auch der
Hobbyhistoriker auf Martens und Eschenzweig. Was sagte er? Der Erstgeborene, der
Uneheliche, sei er. Eine peinliche Schweigepause entstand. Was soll er sagen? „... Äh, also,
Du bist Edmund?“, brachte er verlegen vor. Wieder beträchtliches Schweigen, alle gaffen
sich an. Plötzlich grätscht abermals geschäftstüchtig der Barkeeper dazwischen.
„Schultsche, de 18ner isch all, mo ham no wasch vo de Irren n 21er oder son ritschn Schotte,
son Biem mi wesch Skotti.“ „Jaja, bringen sie mir ihr Romulaner Ale.“ Schon wälzte sich der
Wirt Richtung Tresen, der Hobbyhistoriker atmete tief durch. „Ja, also wenn das so ist, dann
ist doch alles gut. Sie sind ja schon hier, dann brauche ich ja nach Ihnen nicht mehr
weitersuchen. Jetzt wird alles gut gehen.“, und schmunzelte. „Schoo hiir, schmäke lasche,
Prosch de Herre“, brummte erneut der Wirt dazwischen, als er emsig und ungefragt sogar
jedem einen Whiskey brachte. „Tja denne“, erhob überrascht Martens das Glas in ihrer
Dreierrunde, um den Bann des Schweigens zu durchbrechen. „Lasset uns anstoßen, Prost
die Herren.“
Der Schluck vom Whiskey tat allen gut und endlich lösten sich deren Zungen. Der
Hobbyhistoriker berichtete von seiner mühsamen Suche nach dem mysteriösen
verschwundenen Sohn der Eschenzweigs. Natürlich hatte die alte Patriarchin sämtliche
Dokumente über Edmund, schon damals aus den behördlichen Archiven verschwinden
lassen. Doch er fand noch eine uralte lebende Hebamme, die bezeugend darauf beharrte,
dass eben jene edle Dame unter ihrer Obhut das Kind gebar, welches paar Tage darauf ein
ominöser Pfarrer an sich nahm und heimlich zu einem Oheim brachte, zu Herrn Martens
Familie. Aber noch eins schwor hoch und heilig die betagte Greisin, was die Noble damals
noch nicht wusste, als sie ihr Erstgeborenes weggab: Ihr Gatte, der Patriarch der Familie
Eschenzweig, wuchs einst als Jüngling in einer dubiosen Kirchensekte auf und sang in
deren Knabenchor als Kastrat. Mit dieser weltbewegenden Neuigkeit könne nun über den
wahren Vater oder die tatsächlichen Väter von Edmund und Alfred gemutmaßt werden. Das
hieße also, wenn die Alte recht hätte, Unehelichkeit hin oder her, wäre Edmund als
Erstgeborener dieser Dynastie somit der Alleinerbe und der raffgierige Alfred ginge endlich
leer aus. Doch seine Recherchen über Edmund verloren sich irgendwo inmitten von
Brasilien. Erst galt er dort als verschollen und verstorben, dann tauchte er wieder auf, unter
einem falschen, aber ähnlichen Namen und er blieb noch immer unterm Radar versteckt.
Edmund, der seinem zweitgeborenen Bruder Alfred mit seinen roten Haaren und dem
kantige Gesicht zum Verwechseln ähnelte, nach dem er monatelang suchte und forschte,
er saß nun mit ihm am Tisch. Und das musste er als Hobbyhistoriker erst mal verdauen.
Edmund und sein Oheimbruder, der Herr Martens, Getränkemagnat und wichtigstes Mitglied
im hiesigen Stadtrat, ergänzten mit ihren angeregten Ausführungen das verworrene
Lebenspuzzle zu einem Ganzen. Nach diversen feuchtfröhlichen Runden waren sie alle so
ziemlich angeheitert. Die baffen Bemerkungen des dicken Barkeepers amüsierten und
stachelten zu weiteren Drinks an.
„Wasch isch mit de Famille Clan Eschnzei? De een sin Scharfrischter un de annern
Sarchbauer. Dasch mach do keene grosche Vermöschn ausch, hicks, un no lanne keene
Imbäriehuum. Wasch pärfidis alscho treim di nu gehaimissvooll mitnand? Wiso krischt dor
Alfred nu s ganse Melonen Erbe in sei schei Rektus rei gschobe, di eihännlisch unsche liibe
Edie hiir sustähn? Wasch woll mor nu dagäsche tu? Wasch is nu unsche Rarreplaa?“,
rülpste es aus Martens heraus. …
Wegen der späten Stunde verabschiedete man sich freundlich. Nein, Martens und Edmund
wollten nicht vom Hobbyhistoriker mitgenommen werden, auch wenn eine Autofahrt sicher
zügiger in Richtung Bett geführt hätte. Sie zogen einen Fußmarsch vor, die Aufregung des
Tages sollte sich so ein wenig legen. Außerdem wollten die beiden sich die Antworten des
Abends noch einmal so richtig durch den Kopf gehen lassen, denn Vieles war wirklich
überraschend! Edmund war also der Sohn und damit Erbe der Patriarchin Eschenzweig, die
ihn, um ihre Untreue zu vertuschen, als Neugeborenen weggegeben hatte. Vom großen
Reichtum der Sargfabrikanten-Dynastie hatten sie schon oft gehört. Aber wieso Särge zu
solchem Wohlstand führten? Särge? Da liegen doch nur Tote drin. Oder??? Klar, man
könnte darin auch anderes verbergen. Oder transportieren. Und somit transferieren. Und
keiner kommt auf die Idee, den Inhalt eines Sarges zu kontrollieren. Wie pietätlos!!! Und
niemals darf die Produktion von Särgen erlahmen, fürs Funktionieren des Systems sind sie
wichtig. Ja!!! Fürs Funktionieren welchen Systems? An dieser Stelle müssen die beiden
morgen mit klarem Kopf weiterdenken. Mit etwas Recherche sollte der Sache doch
beizukommen sein.
Nur gut, dass der Hobbyhistoriker sie eingeladen hatte. Sein sehr großes Interesse war
beeindruckend. Und was er schon alles recherchiert hatte! Abenteuerlich, wie er Edmunds
Wege auch ins Ausland verfolgt hatte. Aber eigentlich hatte er alles etwas aufgebauscht.
Klar, da war diese Reise nach Brasilien, dann, dass Eds Name am Flughafen falsch
geschrieben worden war und dann über die ganze Zeit in den Papieren so weitergetragen
wurde. Aber im Meldeamt der Heimatstadt hätte man das Ganze unspektakulär verfolgen
können. Der Hobbyhistoriker! Warum machte er das Ganze? Irgendwie seltsam. Und halt,
Martens blieb plötzlich stehen: Da stimmt doch etwas nicht! Der Patriarch Eschenzweig
könne nicht der Vater seines Ziehkinds Edmund sein, aber auch nicht vom auf das Erbe so
erpichten Zweitgeborenen Alfred? Zeugungsunfähig, weil er als Kind als Kastrat im
Knabenchor dieser Sekte gesungen habe? Ein Kind als Kastrat!!! Wo hat man so etwas je
gehört! Knaben haben auch ohne solch furchterregende Eingriffe ihre helle Stimme. Warum
sie das nicht eher gemerkt haben: Der Hobbyhistoriker hat hier mit Absicht falsch historisiert.
Und sie haben nicht gemerkt, dass sie hinters Licht geführt wurden. Was will dieser Mensch?
Und vielleicht: WER ist er? Nicht nur die Patriarchin hat ihre Geheimnisse, auch bei ihrem
Mann könnte sich anderes zugetragen haben, als man gemeinhin denkt
Der Hobbyhistoriker, jaja, auch er hat so seine dunklen Seiten. Und er will so einiges auf
seine Frau schieben. Beide sind sie nicht ganz unschuldig am verirrten Leben ihrer Söhne.
Edmund, dem tatsächlich das ganze Sargfabrik-Imperium zusteht und Alfred, der nur Mittel
zum Zweck war?
Für ein gutes System muss es Regeln geben, damit das Zusammenleben funktioniert. Das
Zusammenleben von und mit Särgen vielleicht? Denn Tote wird es immer geben. Was ist
das für ein Imperium, was Ed‘s Mutter Frau Eschenzweig aufgebaut hat? Eine ganz
entscheidende Rolle dabei spielt sicherlich auch der Hobbyhistoriker. Hatte er doch seine
Frau dazu ermutigt, wenigstens etwas aus IHREM Leben zu machen und etwas GANZ
GROSSES zu erschaffen, damit sie sich vom Leid und Elend ablenken könne. Er unterstütze
sie dabei. Klar, er will sich ja nicht verraten. So kam es also, dass Frau Eschenzweig auf
Drängen ihres Mannes im Jahr 1978 eine Sargmanufaktur gründete, die es nun gilt von
Edmund fortzuführen. Als Edmund unter verzwickten Umständen davon erfuhr, dass ihm
dieses fabelhafte Sargfabrik-Imperium zusteht, setzte er alle Hebel in Bewegung, um mit
Frau Eschenzweig in Kontakt zu gelangen. Aber er hatte keine guten Gedanken daran, er
wollte zerstören! Er wollte seiner Mutter alles nehmen, was auch sie ihm genommen hat.
Sie stahl ihm seine Kindheit, indem sie ihn einfach weggegeben hatte nur um ihrem
Hobbyhistoriker gerecht zu werden. Edmund hatte keine gute und unbeschwerte Kindheit.
Er lebte in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien.
Edmund traf sich erneut mit Martens, um weitere Schritte einzuleiten. Denn Edmund hatte
nur noch diesen einen bösen Gedanken: Frau Eschenzweigs Zerstörung! Er wollte sie ganz
unten sehen. Aber alles sollte schleichend stattfinden. Edmund fand mit Martens‘ Hilfe
heraus, wo seine Mutter die Sargfabrik errichtet hatte und reiste zu ihr – natürlich hat er sich
ihr nicht zu erkennen gegeben. Er wollte Frau Eschenzweig leiden sehen. Als Edmund nun
endlich vor seiner Mutter, der großartigen Patriarchin, stand, hatte er dieses Blitzen in seinen
Augen. Er gab vor, Interesse an einem ihrer hochwertigen Linden-Sargmodelle zu haben,
das augenscheinlich für seinen besten Kumpel bestimmt sei. In Wahrheit wollte er SIE darin
sehen! Um Weiteres zu besprechen, trafen sie sich fortan regelmäßig in den Räumlichkeiten
der Sargfabrik. Dadurch hatte Edmund genug Zeit, alles in Ruhe und vor allem heimlich
auszuspionieren. Frau Eschenzweig beriet Edmund ausführlich über die Einzelheiten einer
Bestattung und seiner notwendigen Formulare.
Eine Woche später.
Edmund verfolgte seinen Racheplan weiter. Er ging zur Sargfabrik und es gelang ihm
unbeobachtet, an den Hauptschlüssel der Sargfabrik zu gelangen, der im Schlüsselkasten
an der Eingangstür hing. Die Eingangstür stand aus unerklärlichen Gründen offen und Frau
Eschenzweig war nicht zu sehen. Ein leichter Nebel stieg plötzlich auf. Edmund schlich sich
flugs in den Eingangsbereich der Manufaktur und versteckte sich. Von seiner Position aus
konnte er Frau Eschenzweig sehr gut beobachten. Er unternahm noch nichts, er
beobachtete nur. Er sah, wie sich Frau Eschenzweig im Spiegel betrachtete, wie sie sich
bewegte, ja beinahe tanzte. Was tat sie da? Was hatte sie vor? Sie sah irgendwie panisch
aus. Ahnte sie, was sie ereilen wird?
Und dann gab es ja auch noch Alfred, den Jüngeren. Welche Rolle spielte er in Familie
Eschenzweigs Leben? Und plötzlich tauchte wie aus dem Nichts genau dieser Alfred hinter
Edmund auf…
Er verpasste Edmund einen kurzen Schlag, so dass dieser zu Boden sank. Er fesselte ihn
an einen Stuhl. Dann stand Frau Eschenzweig vor Edmund und sprach:
„Du hast wohl gedacht, ich wüsste nicht, wer du bist. Du hast das gleiche Mal am Hals, wie
dein Vater. Ich wusste schon damals, dass du nichts taugst, als ich dich weggab.“
Dann wandte sie sich zu Alfred.
„Komm, lass uns aufräumen, im Keller steht noch ein leerer Sarg.“
Ein lauter Knall ließ Karl-Eugen Junior aufschrecken.
Seine inzwischen 85 Jahre alten Knochen ließen beim Dehnen dieser ein lautes
Knattergeräusch vernehmen.
Es fiel ihm schwer seine Augen an die inzwischen herrschende Dämmerung zu gewöhnen.
Die Gedanken in seinem Kopf kreisten immer schneller. Mühsam gewöhnte er sich ans
Hier und Jetzt.
Langsam schlurpfte er zum Lichtschalter. Die alten Neonröhren flackerten eine ganze Weile
bevor sie ihr helles Licht komplett preisgaben.
Karl-Eugen Junior betrachtete sein letztes Werk. Der Sarg, der vor ihm stand, wurde von
unzähligen kleinen Szenen aus seinem Leben geschmückt. Über den malerischen
Erinnerungen muss er wohl eingeschlafen und dieser wirre Lebenstraum in seinem Kopf
entstanden sein.
Nun sah er auch, welches Geräusch ihn so plötzlich aus seinem Traum gerissen hatte. Der
Pinsel hatte bei seinem Fall einen langen schwarzen Strich auf dem Sarg hinterlassen.
Karl-Eugen Junior hob den Pinsel auf, benetze ihn nochmal mit schwarzer Farbe und
vollendete den Strich zu einem Kreuz.
Ende
Teil des Projektes #KETTENREAKTIONEN des Greizer Theaterherbstes 2020

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Der Verlag der AutorInnen gehört den AutorInnen des Verlags